Caen

Caen

Im Hinterland von Hermanville-sûr-Mer liegt Caen, ein Ort mit reicher normannischer Vergangenheit und ehemalige Hauptstadt der Normandie. Eine spontane Radtour in die Stadt an der Orne ist Gegenstand dieses Artikels.

Spontan nach Caen...

Als ich aufwachte, wusste ich — wie so oft auf dieser Reise — noch nicht genau, wie ich den Tag gestalten würde. Das Schlafen im Bus lässt es normalerweise nicht zu, dass man länger als bis 8 oder 9 liegen bleibt (entweder auf Grund der Hitze oder der sich anbahnenden Geräuschkulisse), sodass man beim Frühstück wunderbar über solche Fragen nachdenken kann.


Eigentlich hatte ich mir ja verordnet erstmal kein Kulturprogramm mehr zu verantstalten. Da ich allerdings in eine geschichtlich und kulturell sagen wir mal "aufgeladene" Gegend gefahren war, konnte ich meinen Vorsatz schnell wieder einpacken. Die Normandie ohne Caen oder Bayeux? Eigentlich nicht vorstellbar. Außerdem musste ich mein Fahrrad auch mal wieder bewegen. Seit Paris wurde es nur auf der Ultrakurzstrecke eingesetzt, und das war ja auch nicht Sinn der Sache. Daher habe ich bei Instantkaffee und Camembert-Baguette mit Erdbeermarmelade (neben Müsli mein Standardfrühstück; hört sich seltsam an, sollte man aber mal probieren) beschlossen nach Caen zu fahren.

Die Radtour war bis auf ein paar kleine Verirrungen und den teilweise starken Differenzen zwischen dem Kartenmaterial von Google Maps und der Realtität relativ entspannt. In 18 Kilometern bzw. 45 Minuten war man im Stadtzentrum. Caen selbst wirkt auf den ersten Blick (über mehr bin ich auf Grund des Zeitdrucks bei den meisten Städten leider nicht hinausgekommen) "typisch normannisch", d.h. die für die Region typische Architektur der kleinen Dörfer findet sich auch in der großen Stadt. Beispielhaft hier eine für mich namenlos gebliebene Kirche etwas entfernt vom Stadtzentrum.

Das Musée de Normandie

Den größten Teil meines Ausflugs nach Caen habe ich im Château de Caen verbracht, der Burg von Wilhelm dem Eroberer. Sie ist eine der größten Europas und ihre Außenmauern sind noch fast vollständig erhalten.

Auf dem Burggelände gibt es zwei Museen: Einmal das Musée de Beaux Arts, also irgendein Kunstgeschwurbel, und das Musée de Normandie, ein regionalgeschichtlich ausgerichtetes Museum, dass sich inhaltlich mit der politischen, sozialen und kulturellen Entwicklung der Normandie von 5000 v. Chr. bis ins 20. Jahrhundert auseinandersetzt. Da musste ich wohl rein... Eintritt war für EU-Bürger unter 26 netterweise umsonst.

Hier habe sich dann auch einige (Vor-)urteile über die französische Geschichtsvermittlung, die in meinem letzten Artikel angeklungen sind, wieder relativiert. Ist alles in allem ein gut gemachtes Museum mit teilweise relativ anspruchsvollen englischen Begleittexten. Die bringen allerdings immer einen Kontext bzw. wichtige Zusatzinfos, und helfen dem Betrachter das Gesehene einzuordnen, aber auch zu hinterfragen.

Besonders beeindruckend finde ich immer Gegenstände, die irgendwie nicht in die Zeit passen, aus der sie kommen sollen. Filigrane Glaskelche aus dem ersten Jahrhundert nach Christus oder der unten abgebildete Helm, der wohl über dreitausendfünfhundert Jahre alt und an der Spitze mit feinsten Zierrillen geschmückt ist (teilweise dünner als 1mm). Das bringt immer ein bisschen Schwung in eingefahrene Vorstellungen, die Welt von "gestern" war immer nur rückständig und barbarisch.

Schön waren auch die kleinen Dioramen und Landschaftsmodelle, die aufzeigen, wie sich die Kulturlandschaft Normandie über die Jahrhunderte gewandelt hat, und dass bspw. die Normandie wie wir sie heute kennen — mit Rinderzucht und Calvados — eigentlich erst 150 Jahre alt ist.


Ich habe in den zwei Stunden meines Aufenthalts noch einiges an Exponaten geknippst (v.a. weil man hier von den Mitarbeitern sogar explizit dazu aufgefordert wird), aber Smartphone-Fotos in geschlossenen Räumen sehen trotz HDR-Aufnahmen immer etwas hässlich aus. Und der Reisebericht soll sich auch nicht nur um dieses Musem drehen.

Guillaumes Burg

Danach bin ich noch ein bisschen über das Burggelände gelaufen, auf dem man das Fundament des Palastes von Wilhelm dem Eroberer (Guillaume le Conquérant) sowie den den Donjon der Burg (Äquivalent zum deutschen Bergfried, nur dass man in einem Donjon wirklich dauerhaft wohnte) besichtigen konnte. Die Burg wurde im 11. Jahrhundert errichtet (damals mit Holzwällen) und bis zum hunderjährigen Krieg zu ihrer heutigen Form ausgebaut.

Oben Palast, unten Donjon. Wenn ich die Zeit finde, gestalte ich die Seite so um, dass die Bilder auch Unterschriften haben und man sich so leichter zurechtfindet.

Von der Burg hat man außerdem einen schönen Blick über Caen und ich war von der Anzahl der Kirchen, die man potentiell hätte besichtigen können, etwas eingeschüchtert. Vier lagen in Laufweite und zwei weitere in Fahrradentfernung. Ich habe es dann beim einfachen Knipsen einer Stadtansicht und der nahegelegensten Kathedrale gelassen.

Auf dem Weg zurück zum Fahrrad bin ich ein kurzes Stück durch den Burggraben gelaufen. Der ist relativ breit und bis an die Mauern mit Bäumen und Büschen bewachsen. Schaut nicht schlecht aus.

Danach war ich etwas ratlos, weil mir die Altstadt, durch die ich laufen wollte, eigentlich nicht so sonderlich gefallen hat. Außerdem hatte ich Hunger. Also zum nächsten Supermarkt, den ich mir schonmal grob in Richtung meines "Ersatzzieles", des Mémorial de Caen, gesucht hatte. Die Carrefour-Kassiererin war richtig begeistert, dass ich offensichtlich kein Franzose war, aber mit Müh und Not ein einigermaßen korrekt ausgesprochenes "Bonjour!", "Merci aussi" und "Au revoir, bonne journée!" über die Lippen gebracht habe. So kanns also auch gehen. Nach der kurzen Stärkung bestehend aus Madeleines und Radieschen gings dann zur D-Day-Gedenkstätte.

Friedenssymbol oder Monument eines Übergriffs?

Bevor man den massiven, aber relativ unauffälligen Bau des Mémorials zu Gesicht bekommt, wird man erstmal von einer gut 8 Meter hohen Skulptur namens "Unconditional Surrender" von Seward Johnson begrüßt.

Sie stellt das berühmte Bild dar, dass kurz nach dem Bekanntwerden des Kriegsendes am 14. August 1945 in New York aufgenommen wurde. Ein junger Matrose küsst dabei ziemlich leidenschaftlich und besitzergreifend seine angebliche Freundin. Im Laufe der Jahre hat sich allerdings herausgestellt, dass die beiden weder ein Paar, noch, dass die Frau(en) (es gibt wohl zwei Kandidatinnen, sie sich für die Abgebildete halten; der Matrose hatte so ziemlich alle Mädchen geknutscht, die ihm vor die Nase gelaufen sind) von dieser Aktion übermäßig begeistert gewesen waren. Sie wurden nicht gefragt und "ließen es einfach geschehen" bzw. dachten sich, dass die Männer schließlich ihr Leben riskiert hatten und deswegen so etwas schon in Ordnung wäre. Einer der Infotexte, entnommen aus einer feministischen Zeitschrift, weist darauf hin, dass eine solche Tätigkeit in Frankreich (und wohl auch in den USA) als sexueller Übergriff zu bewerten wäre.

Das wirft natürlich alles ein etwas blödes Licht auf die ganze Angelegenheit, vor allem weil das Bild an sich auch heute noch ein Symbol für Frieden und die unglaubliche Lebensfreude und Erleichterung ist, die Menschen auf der ganzen Welt nach dem Ende eines 65 Millionen Menschenleben verschlingenden Kriegs empfanden. Wenn man allerdings den Titel der Skulptur, "Unconditional Surrender", mit dem Dargestellten in Verbindung bringt und auch Paralleln zu unsystematischen, aber nicht wegzudiskutierenden "Besitzergreifungen" in Form von Vergewaltigungen von alliierten (nicht nur russischen) Soldaten in Europa zieht, finde ich wird es kritisch, das Werk noch vor dem Mémorial auszustellen, dass sich für den Frieden zwischen Ländern, Kulturen un Geschlechtern einsetzt. Diese Verbindungen macht der feministische Artikel (richtigerweise, wie ich finde), und der "gegenüberstehende" Text der Mémorial-Gründer gibt keine rechte Antwort auf das "Warum trotzdem?". Das Argument, dass der Künstler genau auf diese Problematik hatte hinweisen wollen und die Skulptur nichts anderes als ein großer Fingerzeig sein sollte, hätte ich gelten lassen; es wurde aber wohl nicht so intendiert.

(Ob die Geschichte an sich jetzt als sexueller Übergriff in der damaligen Zeit zu bewerten ist und wie weit wir unsere heutigen ethischen Ansprüche auf die damalige Zeit projizieren können ist eine andere Frage, auf die die Verfasserinnen und Verfasser des Artikels wohl eine andere Antwort als ich haben...)

Kurzer Besuch im Mémorial

(Memo an mich selbst: Das nächste Mal sollte ich versuchen die Chronologie zu wahren und nicht schon in anderen Reiseberichten vorzugreifen... also nicht wundern wenn sich dieser Teil vertraut anhört)

Wie man sieht beschäftigte mich diese Frage noch ein bisschen, sodass ich ohne weitere Fotos in die Gedenkstätte lief. Sie beherbergt eine Dauerausstellung zum D-Day und der Wiedereröffnung der Westfront, die wohl ganz gut sein soll. Allerdings kostete der Spaß auch 17 Euro, Studentenpreis versteht sich. Das war mir dann ehrlich gesagt zu teuer. Außerdem gab's von irgendwoher eine Dauerbeschallung mit 40er-Jahre-Musik und MG-Feuer, und in der Boutique lachten mich schon wieder die im letzten Artikel angesprochenen Kinderbücher an. Da habe ich mich damit begnügt, die Spitfire an der Decke zu fotografieren und wieder zu gehen.

Bei meiner Rückkehr nach Hermanville war die Wäsche soweit trocken, dass ich weiterfahren konnte. Als nächste Ziel schlug mir meine App Longues-sûr-Mer vor, mit einem — der Beschreibung nach zu urteilen — phänomenalen Stellplatz. Ich sollte nicht enttäuscht werden, aber das ist Teil des nächsten Reiseberichts.

Weiter geht's mit dem Reisebericht Longues-sûr-Mer und Bayeux.