Omaha Beach bis Lingreville

Omaha Beach bis Lingreville

Auch wenn mich Longues-sûr-Mer sehr begeistert hat musste es wohl oder übel weitergehen. Die nächsten Tage führten mich in kurzen Etappen durch den Rest der Normandie, vom malerischen Omaha Beach, dem tristen Saint-Lô und Wildcamping in Lingreville berichtet dieser Eintrag.

Omaha Beach

Der Strand von Vierville, nach der alliierten Operation Neptune nur noch als Omaha Beach bekannt, war weniger wegen seiner Geschichtlichkeit mein nächstes Etappenziel, sondern weil man hier noch näher am Wasser stehen konnte, als es in Longues möglich war. Gut, eine Fahrbahn und ein Fußgängerweg lagen noch dazwischen, aber darüber konnte ihn hinwegsehen. Die Wolkendecke, welche seit dem phänomenalen Sonnenuntergang mehr oder minder ständig über der Landschaft hing, riss zu meinem Glück an diesem Abend noch einmal auf und verschönerte meinen Strandspaziergang ungemein.

Zwei Kilometer von meinem Stellplatz entfernt lag das Denkmal für die gefallenen Soldaten am Omaha Beach. Laut Wikipedia starben hier wohl am ersten Tag der Invasion ca. 2000 alliierte (v.a. US-Amerikaner) und 1200 Soldaten der Achsenmächte (am Strand kämpfen wohl auch zwangsrekrutierte Polen und Ukrainer). Im Vergleich zu den anderen Strandabschnitten kam es hier also zu den größten Verlusten — trotzdem nichts im Vergleich zum zehntausend- und hunderttausendfachen Sterben der kommenden Wochen und Monate. Ab 1943 und 1944 wurde es schwer über die genaue Zahl der "Ausfälle" (in Form von Toten und Verwundeten) auszumachen. Auf alliierter Seite, weil der Krieg möglichst schnell gewonnen werden sollte und genug "Menschenmaterial" zur Verfügung stand; auf deutscher Seite wahrscheinlich auf Grund der chaotischen Zustände und der demoralisierenden Statistiken.

Zurück zu den schönen Dingen: Omaha Beach ist eigentlich ein sehr malerisches Fleckchen Erde. Der Strand wird von zwanzig- bis dreißig Meter hohen Hügelketten eingerahmt, an deren Füßen sich hübsche kleine französische Strandhäuser entlangziehen. Nach meinem Strandspaziergang kletterte ich noch auf eine dieser Ketten und konnte so ein, zwei schöne Panoramen einfangen.

HORA ist auf dem unteren Bild zu finden; sie ist so ca. zehn Pixel groß. Wer mag, kann ja mal suchen.

Meine Abendbeschäftigung bestand darin, eine Lösung für mein Fliegengitterproblem zu suchen. Wie hoffentlich bald in meinem Ausbau-Artikel dargestellt habe ich auf die Innenseite der Fensterdichtungen Halterungen für Moskitonetze geklebt. Die funktionierten im Prinzip wie die raue Seite eines Klettverschlusses, die das Moskitonetz halten, wenn ich dieses mit meinen Fingernägeln oder einer Zahnbürste dagegendrücke. Diese Konstruktion funktioniert gut und lässt mich auch in heißen Nächten einigermaßen bequem schlafen. Allerdings haften die Widerhaken nicht nur perfekt am Fliegengitter, sondern auch an den umgenähten Rändern meinen Thermomatten, dem Material für kalte Nächte. An diesem Abend habe ich versucht, diese Stoffränder mit Gaffatape abzukleben, sodass sie nicht ständig von den Fliegengitterhalterungen ausgefranzt werden. Sah am Anfang vielversprechend aus, mittlerweile hat sich das Gaffatape an den meisten Stellen "so halb" gelöst und ich stehe mit verklebten Thermomatten da. Naja, vielleicht fällt mir im Laufe der Zeit noch was anderes ein.

Am nächsten Morgen bot sich leider schon wieder das gewohnte Bild am Himmel: bleischwere, undurchdringliche Wolkendecken. Wenn man sich die wegdenken würde und ganz kurz die gut frequentierte Bundesstraße vor meiner Seitentür ignoriert, wäre das schon ein ziemlich perfektes morgendliches Erwachen:

Saint-Lô

Da sich das Wetter nicht verbesserte und mich der immer stärker werdende Verkehr nervös werden ließ (LKWs, die mit 90 km/h knäppstens an meinem Seitenspiegel vorbeidonnerten), beschloss ich weiterzufahren; das Tagesziel war diesmal Saint-Lô. Die Route führte über eine gut ausgebaute Überlandstraße. Das ist ein Mittelding zwischen Landstraße und Autobahn, Höchstgeschwindigkeit liegt hier häufig bei 110 statt 90 und es gibt an Stelle der Kreisverkehre öfter mal klassische Ausfahrten, wie man sie aus Deutschland kennt. Zwischendurch habe ich bei einer Raststätte/Tankstelle mit relativ geschützten Stellplätzen eine kurze Duschpause eingelegt. Beim Zustand der Stellplätze hatte ich keine großen Skrupel, mein Seifenwasser in den Boden sickern zu lassen. Ist außerdem eine biologisch 100%ig abbaubare Speick-Lavendelseife, das sollte schon klar gehen.

Außerdem wollte ich noch meinen Reifendruck anpassen, allerdings bin ich mit dem französischen Pressluftadapter nicht wirklich zurecht gekommen. Erstens hatte er einen komischen Mechanismus und zweitens war er schon ziemlich ausgenudelt. Das kurze Aufstecken hat mir irgendwas über 4 Bar angezeigt, ist bei meiner Zuladung nicht perfekt aber trotzdem noch akzeptabel. Ich werde das nochmal bei einer kleineren Tankstelle probieren.

In Saint-Lô ging es auf den Wohnmobilstellplatz in der Nähe der Altstadt. Der ist für eine Nacht gedacht und war dementsprechend kostenlos. Die Stadt hatte ich von Vornherein nur als Zwischenstation eingeplant, um nicht quer durch die Normandie zu hetzen und noch den ein oder anderen Essensvorrat für meine Weiterfahrt an die See aufzustocken.

Das Wetter und die "urbanen Impressionen" ließen mich an diesem Plan festhalten. Saint-Lô ist — man muss es leider so sagen — relativ hässlich. Das liegt nicht zuletzt daran, dass über 90% der Stadt bei den Kämpfen um die Normandie zerstört wurden und sie mit... funktionaler Nachkriegsarchitektur wieder aufgebaut worden ist. Die ganze Stadt besteht im Prinzip nur aus einem Archtekturstil, dessen Lieblingsbaustoff der Waschbeton ist. Auf Plätzen, in Passagen, an Säulen, aber vor allem an Fassaden. Und das Wetter rundete diese Kumulation von Tristesse wunderbar ab.

Ein kleiner Lichtblick waren immerhin die erhaltenen mittelalterlichen Befestigungen, die die Altstadt umgaben und so einen kleinen Rundweg ermöglichten. Die Mauern und ehemaligen Gräben dienen wohl auch wechselnden Kunstausstellungen als Kulisse; im Moment hat da jemand 30 bunte Fahrräder an die Wand gehängt.

Nach einer guten Stunde war ich mit meiner Stadtbesichtigung am Ende, wollte aber noch den vermeintlichen Soldatenfriedhof am anderen Ende der Altstadt besichtigen. Wie sich schnell herausstellte, war das allerdings ein ganz gewöhnlicher Friedhof, der nur mit übermäßig dicken Kreuzen im Stadtplan aus der Touristinfo hervorgehoben wurde.

"Was solls", dachte ich mir, "jetzt bist du den Weg schon hergelatscht, dann kannst du dir ja auch mal einen französischen Friedhof angucken" (wenn ich gewusst hätte, dass das erst der Anfang meiner französischen Friedhofskarriere war hätte ichs wahrscheinlich sein gelassen).

War im Prinzip ein gewöhnlicher Stadtfriedhof, nur dass es einen sehr viel kleineren Teil für die Urnengräber gab (die wie in Mexiko teilweise in kleinen Mauern angelegt waren), und, dass es hier wohl üblich war, schonmal Grabsteine zu reservieren:

Ich weiß nicht, ob es so etwas in Deutschland auch gibt; es ist mir bisher nie aufgefallen. Aber hier war jeder fünfte Grabstein schon einmal "vorbeschriftet". Nicht nur alte Menschen (bei denen es vielleicht abzusehen war), oder Einzelgräber (dito, schwere Krankheit, was weiß ich), sondern wie in diesem Bild eben auch Familiengräber mit Eltern und ihren Kindern. Etwas morbide, meiner Meinung nach. Da kann man schon Jahre im Voraus auf den Friedhof gehen und sagen: "Da werde ich mal liegen!" Das ist eine... interessante Einstellung zum Tod finde ich. Aber vielleicht hat sie ja sogar etwas beruhigendes. Man muss seinen künftigen letzten Ruheplatz ja auch nicht ständig besuchen, und wenns dann soweit ist, ist schon alles geklärt.

Zurück am Auto habe ich den Rest des Tages mit Einkaufen, Teetrinken, Lesen und Reiseblog schreiben verbracht. Das mache ich mittlerweile (die Einträge kommen aus verschiedenen Gründen meistens mit einer Woche Zeitverzögerung) fast jeden Abend und im Moment macht es mir Spaß, ich weiß aber nicht, wie lange ich das so durchhalten kann oder möchte.

Die Nacht verlief relativ unspäktakulär und nachdem man am nächsten Tag von der benachbarten Baustelle geweckt wurde, ging es recht schnell weiter Richtung Lingreville.

Lingreville

Eigentlich wollte ich ins Meerbad Granville. Da es in unmittelbarer Umgebung allerdings keinen Stellplatz gab, wich ich nach Lingreville aus. Lingreville besteht im Prinzip aus einem winzigen Dorfkern, sieben bis zehn weit verstreuten Gehöften und einer riesigen Campinganlage, deren großzügig bemessene Grundstücke man pachten oder kaufen kann. "Hinter" der Anlage, deren Bewohner man äußerst selten zu Gesicht bekommt, gibt es einen schönen Rastplatz in den Dünen.

Die Dünen direkt am Strand und der Strand selbst sind eine Art Naturschutzgebiet mit landwirtschaftlicher Nutzung (Muschelzucht). Vom Stellplatz sind es vielleicht 80 Meter ans Meer — bei Flut; die Ebbe drückt die See einige hundert Meter weg von den Dünen.

Das Bild am Himmel hatte sich nicht verändert. Allerdings bekam man hier auch keine Waschbetonfassaden zu sehen, sondern raue See, und das war etwas ganz anderes. Wenn ich etwas aus den vielen Urlauben an Nord- und Ostsee mitgenommen habe, dann, dass Meer immer schön ist; egal bei welchem Wetterlage. Eines der wohligsten Gefühle für mich ist es, in einem Backsteinhaus bei schwarzem Tee mit Kluntjes und Sahne zu sitzen, während draußen das Meer tobt.

Richtig getobt hat es in Lingreville nicht, worüber ich dann doch ganz froh war, weil mein Campingbus nicht viel mit einem gut isolierten Backsteinhaus zu tun hat. Aber Schwarztee getrunken und das Wetter beobachtet habe ich trotzdem.

Am zweiten Tag in Lingreville war ich dann auch mit "Kühn hat zu tun" durch. Zugegeben, der finale Twist ist noch abgehobener als bei "The Girl in the Spider's Web", aber da die Geschichte vorher so aus dem Leben gegriffen erzählt wird, ist das nicht weiter tragisch und sprengt den Rahmen nicht in dem Maße wie Geheimagenten und böse Comichelden es tun. Ich gehöre nicht zur primären Zielgruppe des Buchs (vermutlich eher Leute im Alter des Protagonisten; Mitte vierzig); gut fand ichs trotzdem. Und es lässt einen mit schönen Einstellung zum Leben zurück: Es gibt immer so viel Gutes wie Böses auf dieser Welt; die Frage ist, welche Perspektive man lieber betonen möchte.

Neben vielen französischen Tagestouristen stand auch ein VW-Bus mit deutschem Kennzeichen in den Dünen. Mein Trinkwasser ging zur Neige und so hatte ich einen guten Grund, mal wieder ein paar (längere) Worte mit anderen Menschen zu wechseln. Natürlich redet man jeden Tag immer mit irgendjemandem (in meinem Fall häufig Museumspersonal oder Supermarktkassiererinnen). Aber bis auf den Austausch von formalisierten Floskeln ein paar Nettigkeiten ("Your english's pretty good!" ist anscheinend ein großes Lob für Museumsleute und ein guter Gesprächseinstieg) kommen selten längere Konversationen zustande.

Bei den Busbewohnern handelte es sich um ein hartgesottenes Camper-Ehepaar mit Sohn, dass auf ihrer x-ten Frankreichtour war und sich in diesen Dünen wohl ganz gut auskannte. Trinkwasser, wurde mir mitgeteilt, bekomme man ganz gut am Friedhof in Bricqueville, sowie überhaupt an allen französischen Friedhöfen; dieses Gießwasser hat in Frankreich qua Verordnung immer Trinkwasserqualität zu haben. Man müsse nur etwas aufpassen, weil sie teilweise regelrechte Katz- und Mausspiele zwischen Campern und Friedhofswärtern entwickeln könne, bei denen erstere meist den Kürzeren zogen. Ich unterhielt mich mit ihnen noch ein bisschen über die Gegend, über den Stellplatz an sich und über die Kontrollhäufigkeit der örtlichen Gendarmerie. Seit dem der Ausnahmezustand in Frankreich herrscht haben die leider Besseres zu tun, hieß es.

Von der erhöhten "Aktivität" der Gendarmerie konnte ich mich auch schon in anderen Orten überzeugen. Meistens sieht man sie in einem Dreier-Gespann, ein älterer und zwei junge Kollegen, davon mindestens eine Frau. Je nach Laune (oder Gefahrenlage oder was weiß ich), laufen sie mit voller Kampfmontur (Schusssichere Weste, Beinprotektoren, Schlagstöcke, wie bei einer Demo...) und deutlich sichtbarer Pistole, manchmal auch MP, durch die Gegend. In den Städten oder ganz wichtigen Sehenswürdigkeiten werden sie vom Militär abgelöst, dass grundsätzlich mit präsentiertem Sturmgewehr geschäftig durch die Gegend marschiert. Es ist der fast schon putzig wirkende Versuch, bei dem ganzen Horror wenigstens durch massive Präsenz das Gefühl von Sicherheit zu kreieren. Nicht, dass im Ernstfall auch nur einer dieser zusätzlichen Streifenpolizisten/Soldaten etwas ausmachen würde... Die Aussage jedenfalls, die Gendarmerie kümmere sich nicht mehr um "illegal" übernachtende Touristen wurde zwei Tage später durch eigene Erfahrungen relativiert, aber das ist eine andere Geschichte.

Nach einer Weile verabschiede ich mich von der Familie und spazierte, bevor es Zeit war ins Bett zu gehen, noch einmal ins Watt. In Lingreville hat es, wahrscheinlich auch durch die geringe Differenz zwischen Ebbe und Flut, nicht die matschig-lehmige Konsistenz, wie ich es von der Nordsee kenne, sondern ist eher sandig. Das stört die kleinen Krabben und die vielen Sandkringel-produzierenden Wattwürmer allerdings nur unwesentlich.

Und auch der Vogel, der sich so intensiv auf seinen Beutefang konzentrierte, dass ich mich bis auf einen halben Meter nähern konnte, war mit der Gesamtsituation wohl ganz zufrieden (wenn mir jemand sagt, was das für einer ist, füge ich es hier noch ein).

Der Berg ruft

An Tag Drei meines Aufenthalts in Lingreville konnte ich mich dazu aufraffen weiterzufahren. Ich wusste noch nicht genau, wo ich hinwollte, aber nachdem mir mein Navi eine Entfernung von unter 70 Kilometern zum Mont-Saint-Michel errechnet hatte, war das Tagesziel klar. Erst einmal wollte ich aber nach Bricqueville, Wasser auffüllen.

Briqueville ist ein kleiner Ort mit einem kleinen Friedhof, und der Friedhofswärter — wenn es denn einen gab — hatte an einem Freitag Vormittag wohl besseres zu tun, als vorbeifahrende Camper vom Blumenwasser fernzuhalten. Dementsprechend gestaltete sich die ganze Sache sehr einfach: Letzte Wasserreste ausleeren, Wasser nachfüllen, zuschrauben, weiterfahren. Nur falls es Befürchtungen gibt: Ich verwende dieses Wasser trotzdem nur zum Waschen und in abgekochtem Zustand, sicher ist sicher.

Die angekündigten 60 Minuten Fahrzeit wurden (mal wieder) stark überschritten, und (mal wieder) lag es an einem fahrenden Verkehrshindernis. Irgendwie war ich diesmal allerdings nicht so locker wie auf dem Weg nach Longues-sûr-Mer. Das Ding fuhr nämlich auf einer Überlandstraße und provozierte eine kilometerlange Autoschlange, weil es in den entscheidenen Momenten nicht die Freundlichkeit besaß, sich so am Fahrbahnrand zu positionieren, dass andere Verkehrsteilnehmer überholen hätten können. Es handelte sich dabei um eines dieser zwei-Mann-Miniautos, die sich in Deutschland nie wirklich durchsetzen konnten, hier in Frankreich in den Dörfern aber öfter zu sehen sind. Und die machen leider maximal 35, am Berg noch weniger. Nach 20 Minuten war ich kurz davor ins Lenkrad zu beißen, blieb aber tapfer. Einige Fahrer ließen sich zu waghalsigen Überholmanövern verleiten, die in nicht wenigen Fällen auch für den Gegenverkehr ziemlich eng wurden. Nach einer gefühlten Ewigkeit wurde es zweispurig und der Stau löste sich in einem dem Miniauto gewidmeten Hupkonzert auf. Der Rest der Fahrt verlief relativ unspektakulär, und so war ich um kurz nach ein Uhr in Beauvoir, dem Ort "vor dem Berg". Von der Besichtigung dieses Highlights der Normandie erzähle ich im nächsten Artikel.



Weiter geht's mit meinem Reisebericht Le-Mont-Saint-Michel.